Die Politik hat es sich zum Ziel gesetzt, Kinder noch intensiver vor sexuellem Missbrauch öffentlich zu schützen. Das mag außerhalb der digitalen Kanäle möglicherweise auch immer besser funktionieren. Im Internet allerdings kann von einem umfassenden Schutz gegen Kindesmissbrauch keine Rede sein, denn noch nie hatten Pädokriminelle so viele Möglichkeiten, auf Bilder, Gespräche und Adressen von Minderjährigen zuzugreifen, um diese zu sexuellen Handlungen zu nötigen und deren Aufzeichnungen im Internet zu verbreiten.
Die traurigen Zahlen sprechen leider für sich: im Zeitraum 2019 bis 2020, so hat die Internet Watch Foundation aus Großbritannien ermittelt, stieg der Lifestream-Austausch von selbst generierten Missbrauchsdarstellungen um 71 Prozent. Ein Jahr später, also während der Coronapandemie, als die digitale Kommunikation bedingt durch die Ausgangsbeschränkungen deutlich anstieg, schnellte die Verbreitung um weitere 160 Prozent nach oben. Allein 2021 wurden nach Ermittlungen der Europäischen Kommission 85 Millionen Bilder und Videos von sexuellem Kindesmissbrauch gemeldet. Betroffen waren davon in 80 Prozent der Fälle Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren. Zwei Drittel aller Fälle hatten ihren Ausgangspunkt im Online Grooming über Messenger, E-Mails und Onlinechats. Nur ein Drittel der Betroffenen teilen sich anderen Personen mit.
In den meisten Fällen kommt der sexuelle Kindesmissbrauch nur dann ans Licht, wenn die Verbrechen der Täter online aufgedeckt werden. Die Anbieter von Online-Diensten spielen eine entscheidende Rolle bei der Meldung von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet. Leider ist das derzeitige System der freiwilligen Meldung nicht effektiv genug. 95 Prozent aller Berichte werden derzeit freiwillig von einem einzigen Dienstanbieter (Meta) gemeldet, aber die Mehrheit der Anbieter schaut sich nicht an, was auf ihren Diensten passiert. Mit einem europaweit verbindlichen Gesetz würde der Technologiesektor endlich Verantwortung übernehmen und die verfügbaren Mittel nutzen, um die Ausbeutung von Kindern zu bekämpfen.
Child Safety Online Now gegen Kindesmissbrauch
Durch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit unterstützt die Initiative „Child Safety Online Now“ die aktuelle EU-Gesetzesinitiative. Dieses kann nur eine breite politische Mehrheit finden, wenn die Gesellschaft alle Tech-Unternehmen in Europa dazu verpflichtet, den sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet aufzudecken und den Behörden zu melden. Die eigens konzipierte Medienkampagne zielt darauf ab, die von Kindersicherheitsorganisationen entwickelten Inhalte auf Social-Media-Kanälen zu verbreiten und somit die EU-Gesetzesinitiative zu unterstützen.
Über ihre Ziele informiert die in sechs Sprachen (NL, DE, ES, IT, EN, FR) laufende Kampagne auf einer eigenen Website mit einem eigenen Video, welches zum Kampagnenstart gelauncht wurde, sowie mit einer Reihe von Social Media Spots. Alle Inhalte sollen das Thema „Kindesmissbrauch“ in den Fokus rücken. Erhältlich sind alle diese Medienelemente über die Partner, die an dieser Kampagne mitwirken. Insgesamt nehmen daran 15 internationale Kinderschutzorganisationen teil, darunter zwölf deutsche Organisationen. Im Einzelnen sind es:
- ECPAT Germany
- Arbeitsgemeinschaft Allergiekrankes Kind
- Bund Deutscher Amateurtheater e.V. (BDAT)
- Deutsches Kinderhilfswerk
- Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK)
- Innocence in Danger e.V.
- International Justice Mission Germany
- Montessori Deutschland
- PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien e.V.
- Stiftung Bildung Community
- Stiftung Digitale Chancen / Digital Opportunities Foundation Germany
- Weisser Ring
Von ihrem Arbeitsschwerpunkt haben diese Vereinigungen unterschiedliche Schwerpunkte, um Kinder und Heranwachsende vor den im Internet lauernden Gefahren zu schützen und den Kindesmissbrauch einzudämmen. Innocence in Danger etwa ist eine unabhängige internationale Non-profit Organisation, die Internet-Spezialist*innen, Jurist*innen, Kinderschutzorganisationen, Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, Politiker*innen und nationale Aktionsgruppen zusammenbringt. Sie verfolgt dabei das Ziel, die öffentliche Meinung zum sexuellen Kindesmissbrauch zu sensibilisieren und humane, technische und finanzielle Ressourcen zu mobilisieren. Die Stiftung Digitale Chancen wiederum vermittelt Online-Medienkompetenz für Kinder und Senioren, engagiert sich für digitale Inklusion und organisiert Initiativen gegen Hatespeech im Internet und auch Jugendmedienschutz.
Die 1990 in Bangkok gegründete Netzwerk ECPAT International zählt international zu den Pionieren unter den Kinderschutzorganisationen, die sich dem Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt und Ausbeutung verschrieben hat. ECPAT – die Abkürzung steht für End Child Prostitution, Child Pornography & Trafficking of Children for Sexual Purposes – setzt den Schwerpunkt der eigenen Arbeit darauf, die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet, den Handel mit Kindern zu sexuellen Zwecken und die sexuelle Ausbeutung von Kindern in der Reise- und Tourismusbranche zu stoppen. Zu den aktuellen eigenen Initiativen von ECPAT International zählt das Projekt BEACON, welches das langfristige Ziel hat, digitale Schutzlücken zu schließen.
„Hinter jedem virtuellen Bild steht ein realer Missbrauch mit all seinen langfristigen Folgen“
Andrea Wagner, die Vorsitzende von ECPAT Deutschland
Interview mit Andrea Wagner von ECPAT
Da uns als Eltern das Thema Kindesmissbrauch alle interessieren sollte, gibt es hier ein Interview mit Andrea Wagner, der Geschäftsleiterin von ECPAT Deutschland e.V.N Sie sagt: „Wir müssen das Narrativ Kinderschutz gegen Datenschutz überwinden“
Wie wollen Sie die Erfahrungen und Erfolge in der langjährigen Arbeit von ECPAT zum Thema Ausbeutung und sexueller Missbrauch von Kindern in die Initiative einbringen?
Andrea Wagner: Wir sehen unsere Aufgabe als langjährige zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung arbeitende Kinderrechtsorganisation unter anderem darin immer wieder deutlich zu machen, dass es sich bei Ausbeutung im digitalen Raum um schwerste Gewalt an Kindern handelt. Hinter jedem virtuellen Bild steht ein realer Missbrauch mit all seinen langfristigen Folgen. Wir sind seit Anfang 2021 aktiv im Gespräch mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und begleiten das Projekt BEACON von ECPAT International, welches das langfristige Ziel hat, digitale Schutzlücken zu schließen.
Seit wann beschäftigt sich ECPAT konkret mit der Problematik der ungeschützten digitalen Kommunikationskanäle für Kinder und Jugendliche?
Wir als ECPAT Deutschland sind uns schon länger im Klaren, dass die digitale Infrastruktur neben all den Chancen für Information, Kommunikation und Entertainment auch enorme Gefahren für Schutzbedürftige mit sich bringt. Daher arbeiten wir an digitalen Schutzkonzepten für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung. Das erste von ECPAT Deutschland geleitete Programm hatten wir mit dem Make-IT-Safe Projekt im Zeitraum 2013 bis 2014. Dieses im Rahmen des Daphne-Programms der EU finanzierte Projekt, an dem auch vier andere Ländergruppen von ECPAT beteiligt werden, wendete sich an 12- bis 18-jährige Heranwachsende. Der thematische Fokus lag vor allem auf Cyber-Mobbing, Cyber-Grooming und der Sicherheit der Privatsphäre im Internet.
Worauf kommt es nach Ihrer Meinung an, um Öffentlichkeit und Politik über diese Kampagne für das Thema „Kinderschutz im Internet“ zu sensibilisieren?
Ich habe die Wahrnehmung, dass die Öffentlichkeit wie auch die Politik unter anderem durch die neueren, sehr komplexen und mit der digitalen Welt verbundenen Missbrauchsfälle wie z.B. in Bergisch Gladbach bereits sensibilisiert sind. Jetzt kommt es darauf an klar zu kommunizieren wie ein Schutz für Kinder in der digitalen Welt gestaltet werden kann. Wir müssen dabei das Narrativ Kinderschutz gegen Datenschutz überwinden. Letztendlich brauchen wir beides und das gilt es mit allen Beteiligten zum Gelingen zu führen.
Was ist an der EU-Initiative besonders positiv?
Erst einmal ist es sehr gut, dass die EU-Kommission sich dem Thema angenommen hat und solch einen umfangreichen Vorschlag erstellt hat. Der Vorschlag sieht ein komplexes Verfahren vor, das weiter diskutiert werden muss, um einen wirkungsvollen und zielgerichteten Nutzen daraus zu sehen. Hervorzuheben ist die Verpflichtung zur Risikoanalyse der Anbieter sowie der zu treffenden Vorsorgemaßnahmen. Ergo werden alle verpflichtet sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und geeignete digitale Schutzkonzepte vorzulegen. Positiv ist auch der beabsichtigte Aufbau eines EU-Centers, um unsere europäische Unabhängigkeit zu stärken und hier beispielhaft voranzugehen.
Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
Wir können noch nicht alles übersehen und können deshalb heute noch nicht sagen, wie effektiv es sein wird. Die Wirksamkeit des Vorschlags hängt von den Detaillösungen ab, die sich aus den Diskussionen ergeben, die wir in den nächsten zwei Jahren führen werden.
Titelbild © Gerd Altmann (Pixabay)