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Interview mit Dr. Oliver Dierssen – Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist

Jede Geburt ist ein kleines Wunder. Und für jeden neuen Bewohner auf dem Planeten sind die Eltern von Anfang an für die Sicherheit, die Entwicklung und die Erziehung zuständig. So entsteht bestenfalls eine intensive Beziehung, die von Vertrauen und Liebe geprägt ist. Die Eltern wünschen sich ein glückliches Kind und tun alles, ihm eine tolle Kindheit zu bereiten. Das ist aber gar nicht so einfach, denn keiner hat das Eltern-sein gelernt. Es gibt keine Blaupause für den richtigen Weg als Mutter und Vater.

Und nicht selten entstehen im Laufe der Kindheit erhebliche Konflikte zwischen Eltern und ihren Kindern. Darum geht es in dem Buch „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht“ von Dr. Oliver Dierssen. Ein wichtiges Thema, daher wollten wir mehr darüber wissen und haben ihm ein paar Fragen gestellt.

Wie entstehen auf beiden Seiten die Gefühle von Unverstandensein, Zurückweisung oder Enttäuschung und wie wirken sich diese Emotionen auf die Eltern-Kind-Beziehung aus? Für manche Eltern ist es die schwerste emotionale Verletzung, wenn ihre Kinder sie nicht so lieben, wie sie es sich ersehnt hatten. Nicht wenige werden darüber krank, körperlich und seelisch. Und das gilt nicht nur für die Eltern, sondern ebenso für deren Kinder. Oft können da nur Experten helfen, wieder in die Spur zu finden. Aber für so eine Entscheidung braucht es zuerst einmal die Erkenntnis, dass überhaupt Hilfe nötig ist, um Ohnmachtsgefühle zu überwinden, seelischen Schmerz wahrzunehmen, sein Gegenüber zu verstehen und neues Vertrauen zu wagen.

Hier sind die Antworten von Dr. Oliver Dierssen

1. Lieber Oliver Dierssen, kannst du dich kurz vorstellen?

Ich bin als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie niedergelassen und beschäftigte mich seit Jahren mit dem Thema Eltern-Kind-Interaktionsstörungen. Bei fast allen seelischen Problemen von Kindern und Jugendlichen gilt: auch die Eltern-Kind-Beziehung ist belastet.

2. Wie kam es, dass du nun ein Buch über diese Beziehung geschrieben hast?

In vielen der aktuellen Erziehungsratgeber steht die Bindungs- und Beziehungsorientierung im Mittelpunkt. Und das auch völlig zu Recht: Bindungsorientierte Begleitung macht Kinder stark. Doch darüber, was was passiert, wenn die Beziehung nicht gut gelingt, wurde für meinen Geschmack zu wenig geschrieben. Dabei ist das Thema hochbelastend: Was mache ich, wenn ich mit meinem Kind nicht auf eine Wellenlänge komme, wenn wir uns trotz aller Mühen oft einfach nicht verstehen?

3. Wer sollte dein Buch lesen?

Das Buch richtet sich keineswegs nur an Eltern, die mit ihren Kindern schon in großer Not sind. Auch für solche Fälle gibt es im Buch Anregungen und Übungen. Trotzdem gilt: Gefühle von Zurückgewiesenwerden und auch Enttäuschung treten in allen Beziehungen auf und sind für alle Familienmitglieder belastend. Mein Buch soll einen Beitrag leisten, um Eltern-Kind-Beziehungen neu zu denken und solche negativen Gefühle besser auszuhalten.

4. Wie hast du dein Buch aufgebaut?

Das Buch stellt in acht Kapiteln häufige Störungen der Eltern-Kind-Beziehungen dar: Enttäuschung und Schuldgefühle, Zurückweisung und seelischen Schmerz, Machtkämpfe und Ohnmachtsgefühle, Respektlosigkeit und gegenseitige Verletzungen sowie ernstere Krisen bis hin zur Suizidalität. Die Kapitel werden durch Fallbeispiele ergänzt und enthalten Übungen, die Eltern helfen können, mit diesen Gefühlen besser umzugehen.

Arzt und Buchautor Dr. Oliver Dierssen
Arzt und Autor Dr. Oliver Dierssen // © Mario Wezel

5. Ganz konkret gefragt: Warum sind Kinder und Eltern manchmal so verschieden?

Weil alle Menschen verschieden sind. Eltern und Kinder stellen da keine Ausnahme dar. Auch wir Erwachsene unterscheiden uns ja sehr deutlich von unseren eigenen Eltern. Diese Unterschiede sind auch wertvoll, sie sind Ausdruck unserer Individualität und persönlichen Entwicklung. Diese Individualität bei Kindern wahrzunehmen und auch zu lieben gehört zum Erfolgsrezept einer erfüllten Elternschaft.

6. Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern sind ja eine Art Alltagsbegleiter von Familien. Kannst du uns mehr darüber sagen?

Den wenigsten Eltern gefällt es, Macht über ihre Kinder auszuüben. Allerdings berichten viele Eltern über Momente, in denen sie sich hilflos oder sogar ohnmächtig fühlen. Es geht in Eltern-Kind-Konflikten also häufig um Macht und Kontrolle. Einige Eltern üben ein hohes Maß an Kontrolle aus. Sie befürchten, ihre Kinder könnten sich nicht gut entwickeln, wenn sie „tun, was sie wollen“. Hier kommen Eltern schnell in Konflikt mit dem Autonomiebedürfnis und der wachsenden Identität ihrer Kinder. Dann kracht es.

7. Wie zeigen sich Ohnmachtszeichen, die viele auch als Respektlosigkeit bezeichnen, bei Kindern und Eltern?

Jeder von uns fühlt sich einmal hilflos und sendet Ohnmachtszeichen. Sie treten auf, wenn wir das Gefühl von Kontrollverlust haben. Erwachsene reagieren in solchen Situationen zu impulsiv, oft auch defensiv, sie gehen auf Abstand. Ohnmachtszeichen von Kindern erscheinen manchmal respektlos: ins Kinderzimmer laufen, verstecken, weinen oder absichtlich nicht zuhören. Dieses Verhalten weist sehr klar auf kindliche Ohnmacht hin. Darum sollte man darauf nicht mit noch mehr Druck und Kontrolle reagieren, sondern den Konflikt zunächst runterfahren.

8. Warum sollten Ironie, Sarkasmus, Resignation und Unhöflichkeiten keinen Platz haben in der Erziehung?

Konflikte mit Kindern verlaufen schlecht, wenn sie von Ironie, Sarkasmus oder Unhöflichkeiten geprägt werden – so wie bei Erwachsenen auch. Wenn Ironie erst mal Teil der Alltagskommunikation ist, ist es schwer, sie wieder loszuwerden. Die Erwachsenen sollten Vorbilder dabei sein diese Verhaltensweisen abzulegen, denn vom ihrem Vorbild lernen Kinder wirklich am besten.

9. Welchen Vorteil hat es, sein Kind mit „fremden Augen“ zu sehen?

Mit fremden Leuten gehen wir oft höflicher um. Wir sehen leichter über ihre „schlechten Eigenschaften“ hinweg und umgehen harte Konfrontationen. Es ist gut, sich manchmal zu fragen: „Wie würde ich mich verhalten, wenn ein fremdes Kind vor mir sitzen würde?“ Würde ich dann auch sagen: „Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, verbummel deinen Schlüssel nicht!“ oder doch eher: „Oh Mist, du bist spät dran – soll ich dir helfen, deinen Schlüssel zu finden?“ Bessere Lösungsstrategien kann man dann später immer noch entwickeln, wenn der Konflikt abgeklungen ist.

10. Auch Eltern leiden unter Burnout. Was lässt sich dagegen tun?

Es gibt Burnout-Erkrankungen nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Elternschaft. Gerade Eltern, die nach dem Leitspruch leben: „Es ist nicht wichtig, wie es mir geht, sondern wie es meinem Kind geht“, sind gefährdet. Um einen Burnout zu verhindern, der ja mit schweren Symptomen einhergeht, ist es wichtig, die eigene Haltung zu hinterfragen: Darf ich mich auch mal selbst an die erste Stelle setzen? Kann ich mit Schuldgefühlen leben, wenn ich mir selbst etwas Gutes tue? Kann ich mir gegenüber Selbstmitgefühl  entwickeln?

vielleicht hast du auch ein paar praktische Tipps für uns? Zum Beispiel:

11. Wie kann ich mein Kleinkind aus seiner heiß geliebten Spiel-Verabredung herauslösen?
Vermutlich ist es unmöglich, dass sich das Kind gern abholen lässt – es möchte lieber noch spielen. Hier entsteht ein Bedürfniskonflikt zwischen Eltern und Kindern. Dieser löst sich nicht automatisch, darum kracht es eben auch mal. Beide Bedürfnisse sind ja nachvollziehbar: das Bedürfnis des Kindes weiterzuspielen und das Bedürfnis der Eltern, heimzufahren. Sich vor Augen zu führen, dass mein Kind ein ebenso legitimes Bedürfnis hat (das gerade nur nicht passt) hilft dabei, nicht allzu wütend zu werden und dem Kind das Gefühl zu geben: „Ich kann nachvollziehen, was du möchtest, auch wenn ich mich gerade durchsetzen muss.“

12. Was ist wichtiger? Der liebe Familienfrieden oder das unbegrenzte Zock- und Glotz-Bedürfnis unserer Kinder?
Eltern sollten nicht gegen eigene Überzeugungen handeln, sondern ihrem Instinkt vertrauen. Man darf auch mal inkonsequent sein. Jeder von uns hat als Kind heimlich ferngesehen oder Nintendo gespielt. Das gefährdet die Entwicklung von Kindern nicht.

13. Wie kann ich meinem Teenie Hilfe bei sozialen Krisen anbieten?
Jugendliche sind oft sehr gut darin, Probleme selbst zu lösen. Diese Fähigkeiten sollten wir Eltern nutzen. Ich kann fragen: „Schaffst du das Problem allein zu lösen, oder soll ich helfen?“ Wichtig ist auch, eine Grenze zu setzen: „Wer hilft dir mit deinem Problem, wenn du es selbst nicht schaffst? Kann ich mich darauf verlassen, dass du dich dort meldest?“ Jugendlichen reagieren oft sehr positiv darauf, wenn man ihnen vertraut.

14. Wann sollte man sich besser an eine Beratungsstelle wenden und direkt Hilfe in die Familie holen? Wie geht man dafür vor?
Hierfür stehen in meinem Buch Checklisten, die helfen können, Probleme wie zum Beispiel Suizidalität, Gewalt oder andere Grenzüberschreitungen einzuschätzen. Es besteht ja ein differenziertes, hochkompetentes Hilfsangebot für Familien. Eltern sollten wissen: Man muss es nicht alleine schaffen. Die eigenen Grenzen zu wahren und Hilfe zu holen, wenn man allein nicht weiterkommt, ist ein Merkmal von erfolgreichen Eltern.

15. Was kann man denn tun, um all die schlauen Dinge, die in deinem Buch stehen, im Erziehungs-Alltag nicht wieder zu vergessen?
Eltern könnten die vielen Übungen, die in meinem Buch stehen, einfach mal ausprobiert und im Alltag Veränderungen zulassen. Es würde mich sehr freuen, wenn mein Buch Eltern zu einer neuen eigenen Entwicklung inspiriert. Das kann auch für Kinder und Jugendliche als Vorbild wirken.

Danke für das Gespräch, Oliver 🙂
Hier findet ihr das Buch als ersten Schritt für ein besseres Miteinander. Und hier gibt es noch ein paar weitere hilfreiche Bücher für Väter sowie Interviews mit spannenden Papas.

Infos zum Buch

  • Titel: Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht
  • Autor: Dr. Oliver Dierssen
  • Herausgeber: ‎ Mosaik Verlag
  • Erschienen: 13. Oktober 2022
  • Sprache: ‎Deutsch
  • Seiten:‎ 353 Seiten

Titelbild © Mario Wezel

Kai Bösel
Kai Bösel
Kai Bösel ist Patchwork-Dad von drei Kindern, die eigene Tochter Mika ist im April 2012 geboren. Der Hamburger ist Online-Publisher und betreibt neben Daddylicious auch das "NOT TOO OLD magazin" inklusive Podcast. Außerdem schreibt er für ein paar Zeitschriften und Magazine und hilft Kunden und Agenturen als Freelance Consultant. Nach dem Job entspannt er beim Laufen oder Golf.

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