Erinnerst du dich noch?
Das Gefühl von Freiheit, wenn man selbst als Kind das erste Mal allein zum Bäcker fahren durfte. Die aufgeschürften Knie nach waghalsigen Bremsmanövern. Der Spaß und das Abenteuer, während man mit Freunden durch die Nachbarschaft cruiste wie Elliott mit seinem Kumpels bei E.T.. Und die Radtour mit den Eltern, bei der gefühlt jeder Berg eine Ewigkeit dauerte, aber oben das Eis umso besser schmeckte. Für viele von uns Vätern gehörte das Fahrrad zur Kindheit wie der erste eigene Kassettenrekorder.
Das Fahrrad war damals mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es war Freiheit auf zwei Rädern. Der Radius wurde größer, die Welt erreichbarer, die Unabhängigkeit spürbar. Zum Fußballtraining? Klar, mit dem Rad. Zu Oma und Opa zwei Straßen weiter? Selbstverständlich. Und zur Schule sowieso, egal ob bei Regen, Wind oder Sonnenschein.
Was ist passiert? Das Fahrrad-Paradoxon
Heute sieht die Sache anders aus, und das ist das Verrückte daran: Eigentlich müsste es besser sein. Schon Zweijährige sausen heute selbstbewusst auf Laufrädern herum und sammeln erste Fahrerfahrungen. Anne Schmidt vom Anhängerhersteller Croozer erklärt: „Immer mehr Eltern nutzen das Fahrrad oder E-Bike, um ihren Nachwuchs z. B. mit einem Anhänger in den Kindergarten zu fahren. Die Kinder werden so früh an das Radfahren herangeführt.“ Viele Kinder steigen bereits mit drei Jahren aufs richtige Fahrrad um. Eine Entwicklung, von der frühere Generationen nur träumen konnten.

Der Anteil der Kinder, die mit dem Rad zum Kindergarten fahren, ist in den letzten Jahren tatsächlich gestiegen. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte: Ab dem Grundschulalter kehrt sich dieser Trend dramatisch um. Laut der KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, die seit 2003 die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland untersucht, geht der Anteil radfahrender Kinder ab der Einschulung wieder zurück. Ausgerechnet dann, wenn die Kinder eigentlich mobil und selbstständig werden sollten.
Warum das mehr ist als nur Nostalgie
Man könnte jetzt sagen: Na und? Hauptsache, die Kinder kommen sicher zur Schule. Aber es geht um viel mehr als um ein romantisches Gefühl von „früher war alles besser“. Es geht um die Gesundheit und Entwicklung unserer Kinder.
Die Zahlen aus der KiGGS-Studie sind ernüchternd: Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen zwischen drei und 17 Jahren bewegen sich mindestens 60 Minuten am Tag und folgen somit der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Das unorganisierte, freie Spielen an der frischen Luft hat in den letzten Jahren um 25 Prozent nachgelassen. Der Mediziner und Politiker Johannes Wagner bringt es auf den Punkt:
„Das alltägliche Radfahren hat bereits einen positiven Effekt auf die Gesundheit.“
Darüber hinaus könnten sich radfahrende Kinder besser orientieren, bauten leichter soziale Bindungen auf und könnten unvorhersehbare Situationen selbstständig lösen – alles zentrale Bausteine der kindlichen Entwicklung.
Marc Thiel, Geschäftsführer beim Kinderfahrzeughersteller Puky, ergänzt: „Dabei prägt das Grundschulalter, wie Kinder im weiteren Lebensverlauf mobil sind. Kinder und Jugendliche, die sich häufig bewegen, machen das auch im Erwachsenenalter.“ Mit anderen Worten: Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, ziehen wir eine Generation heran, die Bewegung als optional betrachtet, mit allen gesundheitlichen Folgen.

Von Insel zu Insel im Elterntaxi
Experten sprechen von der „Verinselung“ der Kindheit. Gemeint ist damit ein Phänomen, das viele von uns aus dem eigenen Alltag kennen: Kinder werden nicht mehr selbstständig mobil, sondern von einer Insel zur anderen chauffiert, zum Beispiel zur Schule, zum Sport, zu Freunden. Meist im Auto, immer unter Aufsicht. Die Folge: Die alltägliche, selbstständige Bewegung fällt komplett weg.
Thiel sagt dazu: „Kindern wird gar nicht zugetraut, sich eigenständig von einer Insel zur anderen zu bewegen. Das ist schade, denn dadurch verlieren sie Verkehrskompetenz und wichtige Grundlagen, die sie später brauchen.“ Ergänzt wird dieses Bild durch die „Verhäuslichung“: Kinder verbringen immer mehr Zeit zu Hause oder in geschlossenen Räumen. Dazu zählt auch die „mobile Verhäuslichung“ im elterlichen Auto, wo Kinder weiterhin in einem gewohnten, behüteten Raum unter Aufsicht bleiben.
Der Teufelskreis: Mehr Autos, weniger Kinder auf der Straße
Aber warum ist das so? Warum lassen wir unsere Kinder nicht einfach Rad fahren, wenn wir doch selbst die positiven Seiten kennen? Die Antwort ist so einfach wie frustrierend: Wir haben Angst. Angst vor dem Verkehr, vor Unfällen, vor den vielen Autos auf den Straßen.
Eine ältere Studie der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2010 zeigt: In Wohngebieten mit hohem Verkehrsaufkommen spielen nur noch 18 Prozent der Kinder auf der Straße. Der Verkehrsclub Deutschland formuliert es so: „Die starke Zunahme des Autoverkehrs und das damit einhergehende Unfallrisiko hat die Möglichkeiten von Kindern, sich in ihrem Umfeld selbstständig zu bewegen, stark eingeschränkt. Selbstständige Kinderwege werden immer häufiger durch begleitete Wege im ‚Eltern-Taxi‚ ersetzt.“
Das Paradoxe daran: Jedes Elterntaxi macht die Situation noch schlimmer. Mehr Autos vor Schulen bedeuten mehr Chaos, mehr Gefahr, mehr Angst und noch mehr Eltern, die ihre Kinder lieber fahren. Ein Teufelskreis.
Die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes unterstreichen die Problematik: 2024 verunglückten rund 27.260 Kinder unter 15 Jahren bei Verkehrsunfällen. Statistisch alle 19 Minuten wird ein Kind im Straßenverkehr verletzt oder getötet. Bei Schulkindern zwischen sechs und 14 Jahren ereignen sich die meisten Unfälle montags bis freitags zwischen 7 und 8 Uhr morgens, also genau in der Zeit des Schulwegs.

Was können wir tun? Konkrete Schritte für mehr Pedalpower
Die gute Nachricht: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Es gibt konkrete Maßnahmen, die helfen, sowohl auf politischer Ebene als auch im direkten Familienalltag.
Auf kommunaler Ebene: Der Verkehrsanwalt Olaf Dilling betont, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen: „Man brauche einen kindgerechten Verkehr und nicht verkehrsgerechte Kinder.“ Bereits in der Verkehrserziehung wird Kindern fälschlicherweise beigebracht, dass das Auto Vorrang hat und sie „das Auto nicht stören“ sollen. Das muss sich ändern.
Eine ADFC-Umfrage zeigt: 77 Prozent der Bevölkerung glauben, dass mehr Eltern ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren lassen würden, wenn die Schulwege sicherer wären. 71 Prozent halten breitere, vom Autoverkehr getrennte Radwege für die richtige Maßnahme. Weitere sinnvolle Schritte sind Fahrradstraßen, Schulstraßen mit Fahrverbotszonen vor Schulen, Tempo-30-Zonen und verstärkte Kontrollen bei Falschparkern.
Wichtig dabei: Einzelne Maßnahmen reichen nicht. Es braucht ein durchdachtes Gesamtkonzept mit Fokus auf die Sicherheit der Kinder. Pauschallösungen funktionieren nicht, jedes Wohnviertel braucht individuelle Anpassungen.
>> Linktipp: So können Kinder schnell Fahrradfahren lernen <<
Was wir als Väter tun können:
Auch wenn die Politik gefordert ist, können wir trotzdem im Kleinen anfangen. Hier sind konkrete Tipps, wie ihr eure Kinder aufs Bike bringt:
Früh üben, Vertrauen aufbauen: Nutzt die Wochenenden für gemeinsame Radtouren in verkehrsarmen Gebieten. Parks, Waldwege oder ruhige Nebenstraßen eignen sich perfekt, um Sicherheit zu gewinnen.
Den Schulweg gemeinsam erkunden: Fahrt die Strecke zur Schule mehrmals zusammen ab. Zeigt kritische Stellen, übt das Abbiegen, das Überqueren von Straßen. Macht daraus kein Angst-Szenario, sondern ein Abenteuer.
Fahrgemeinschaften bilden: Sprecht euch mit anderen Eltern ab. Wenn mehrere Kinder zusammen zur Schule radeln, ist das sicherer und macht mehr Spaß. Gerade am Anfang kann ein Elternteil die Gruppe begleiten.
Das richtige Equipment: Ein gut gewartetes Fahrrad in der richtigen Größe, ein passender Helm und sichtbare Kleidung sind Pflicht. Lasst euer Kind selbst aussuchen, denn wer stolz auf sein Rad ist, fährt lieber.
Vorbild sein: Fahrt selbst mehr Rad. Kinder lernen durch Nachahmung. Wenn Papa mit dem Rad zur Arbeit fährt oder am Wochenende zum Bäcker radelt, wird das zur Normalität.
Kleine Schritte feiern: Der erste selbstständige Weg zum Freund um die Ecke, die erste Radtour ohne Stützräder, der erste Schulweg allein – feiert diese Meilensteine. Sie sind wichtig für das Selbstbewusstsein eurer Kinder.
Geduld haben: Nicht jedes Kind ist mit sechs bereit für den selbstständigen Schulweg. Manche brauchen bis zur dritten oder vierten Klasse Begleitung. Das ist okay. Wichtig ist, dass die Richtung stimmt.

Die Investition lohnt sich
Ja, es kostet Zeit. Ja, es ist manchmal mühsam. Und ja, morgens schnell mit dem Auto zur Schule zu fahren ist bequemer. Aber was wir unseren Kindern damit mitgeben, ist unbezahlbar: Selbstständigkeit, Orientierungssinn, Bewegung, Selbstvertrauen und die Fähigkeit, sich in unsicheren Situationen zurechtzufinden.
Übrigens: 47 Prozent aller Schulwege in Deutschland sind kürzer als ein Kilometer. Eine Strecke, die jedes Kind problemlos mit dem Rad bewältigen kann, wenn wir es zulassen.
Das Fahrrad war für unsere Generation ein Stück Kindheit, das uns geprägt hat. Wir sollten dafür sorgen, dass auch unsere Kinder diese Erfahrung machen können. Nicht aus Nostalgie, sondern weil es das Beste für sie ist. Also: Pumpt die Reifen auf, checkt die Bremsen und lasst die Kleinen fahren. Die frische Luft, die aufgeschürften Knie und das Gefühl von Freiheit warten schon.
Dieser Beitrag entstand aufgrund einer Meldung des Pressedienst Fahrrad.