Ein Beitrag von Witalij Deifel
Die Gesellschaft liebt klare Bilder. Und Männer bekommen ihr Etikett schneller, als sie gucken können: toxisch, gewaltvoll, gefühlskalt. Kaum einer fragt, woher das kommt. Stattdessen hagelt es neue Erwartungen: Sei empathisch! Zeig Gefühle! Sei stark, aber nicht zu stark! Verdiene gut, übernimm Carearbeit, aber dräng dich nicht auf.
Das Ergebnis: Ein Mann, der alles soll und dabei selbst nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist.
Zwischen alten Glaubenssätzen und neuer Orientierungslosigkeit
Viele Männer meiner Generation tragen eine unsichtbare Last. Glaubenssätze wie: Ein Indianer weint nicht. Sei hart. Funktioniere. Gleichzeitig sollen wir sanft, präsent und emotional offen sein. Der Widerspruch brennt sich tief ein.
Mir wurde beigebracht, Gefühle zu unterdrücken. Wenn ich weinte, war ich die „Heulsuse“. Also schwor ich mir: Nie wieder weinen. Und wie habe ich das geschafft? Durch Verdrängung. Durch Blockaden. Durch den Aufbau einer Mauer, die irgendwann unüberwindbar schien.
Heute, als Vater von zwei Kindern, erkenne ich, was das bedeutet. Unsere Erziehung hat uns geprägt, aber nicht unbedingt gestärkt. Vielleicht hat sie funktioniert. Vielleicht war sie auch ein großer Irrtum.
Die Erkenntnis: Ich bin das Vorbild
Als mein Sohn geboren wurde, wurde mir schlagartig klar:
Ich bin sein Blueprint. Er schaut auf mich, um zu verstehen, was Männlichkeit bedeutet. Und wenn ich mich umschaue, sehe ich: Wir Männer leben in einer Welt, in der Männlichkeit kaum noch echt vorgelebt wird. Wir sehen Illusionen, Vater-Morganas, und wenn wir ihnen näherkommen, zerfallen sie.
2017 begann ich, mich zu fragen: Was ist eigentlich Männlichkeit? Wer hat sie mir gezeigt? Ich schaute auf meinen Vater, meinen Opa, mein Umfeld und musste feststellen: Da war kaum etwas. Die Männer waren oft abwesend, die Frauen übernahmen ihre Rolle. Kontrolle, Organisation, Verantwortung, alles in weiblicher Hand. Und die Männer? Mitläufer. Angepasst. Still.
Wie soll aus dieser Struktur echte Männlichkeit entstehen?

Fehlende Vorbilder – fehlende Orientierung
Männlichkeit entsteht nicht durch Worte, sondern durch Vorleben. Doch wie soll ein Mann seinen Sohn anleiten, wenn er selbst nie gelernt hat, mit seinen Emotionen, seinem Schatten, seiner Wut umzugehen? Wenn er gelernt hat, Konflikte mit Alkohol, Arbeit oder Schweigen zu kompensieren?
Ich erinnere mich gut: Als Jugendlicher wollte ich „dazugehören“. Also machte ich mit. Trinken, hart sein, nichts fühlen. So, wie Männer das eben machen. Doch hinter der Fassade saß ein verletzter Junge, der nie gelernt hatte, über seine Angst oder Trauer zu sprechen.
Die Kette der Unbewusstheit
Mein Vater hat es nicht besser gewusst. Und sein Vater vermutlich auch nicht. Jeder tat, was er konnte, aber kaum einer war wirklich da. Die Folge: Eine Generation von Männern, die funktionieren, statt zu fühlen. Die versuchen, männlich zu sein, ohne zu wissen, was das wirklich bedeutet.
Als ich Vater wurde, sagte ich mir: Genug ist genug. Ich will nicht mehr Opfer meiner Vergangenheit sein. Ich will Vorbild sein. Ich will wissen, was meine Männlichkeit bedeutet. Und dafür musste ich mich vom Außen lösen, von Medienbildern, von Erziehung, von Erwartungen.
Männlichkeit neu definieren
Männlichkeit ist kein Rollenbild. Sie ist eine Haltung. Sie zeigt sich nicht in Dominanz, sondern in Verantwortung. Nicht im Unterdrücken, sondern im bewussten Fühlen.
Ich habe gelernt, dass „echte Männlichkeit“ nicht entsteht, wenn man stark wirken will, sondern wenn man seine eigenen Schatten integriert. Die Teile in sich anschaut, die man jahrelang verdrängt hat: Wut, Angst, Versagen, Scham.
Der größte Kampf eines Mannes
Der härteste Kampf, den ich je geführt habe, war der gegen mich selbst. Ich wollte männlich sein – ohne es je erlebt zu haben. Ich erwartete von mir etwas, das mir nie vorgelebt wurde. Wenn ich in den Spiegel sah, sah ich zwar einen Mann, aber keine Werte, keine Klarheit, kein Fundament.
Ich war weich, aber nicht sanft. Friedfertig, aber ohne Grenzen. Ich wollte Harmonie, um jeden Preis.
Heute weiß ich: Ein Mann ohne Werte ist kein Mann, sondern eine leere Hülle. Er lässt sich treiben, sucht Anerkennung, passt sich an. So war ich. Ein Gärtner im Krieg, statt ein Krieger im Garten.

Ein Vater, zwei Kinder – zwei Spiegel
Meine Tochter zeigt mir jeden Tag: Ich bin ihr Maßstab.
Der Mann, der ich bin, bestimmt, welche Männer sie später in ihr Leben zieht. Und der Mann, der ich früher war, den wünsche ich ihr nicht. Also ändere ich mich. Ich räume auf. In mir, in meinem Leben, in meinen Beziehungen.
Mein Sohn wiederum zeigt mir: Ich bin das Vorbild, das er sucht.
Wenn ich meine Emotionen unterdrücke, wird er es auch tun. Wenn ich mich klein mache, wird er lernen, dass Männer sich klein machen müssen. Wenn ich aber meine Schatten annehme, wird er lernen, dass Stärke aus Ehrlichkeit entsteht.
Wie männliche Toxizität wirklich entsteht
Wir reden viel über „toxische Männlichkeit“. Doch kaum jemand fragt, woher sie kommt. Ich glaube: Sie entsteht dort, wo echte Männlichkeit in Form eines Vaters fehlt oder dieser Vater selbst eine toxische Männlichkeit vorgelebt hat. Dort, wo Männer nie lernen, ihre Kraft bewusst zu führen. Wo Wut keinen Raum bekommt, wo Schmerz nicht gesehen wird, wo Verantwortung nicht gelebt wird.
Männer, die nie ein wirkliches männliches Vorbild hatten, lernen nicht, wie sie ihre eigene Energie kontrollieren. Sie wissen oft nicht, wohin mit ihren Gefühlen – und im schlimmsten Fall explodiert es irgendwann. Und ja, solche Männer haben oft ein großes Gewaltpotenzial. Aber sie sind nicht das Produkt reiner Bosheit. Sie sind das Produkt von Leere.
Wenn in den Medien wieder über die Gewaltbereitschaft von Männern gesprochen wird, sollte auch eine andere Frage gestellt werden:
Bevor man sagt „der böse, gewalttätige Mann“, hatte dieser Mann jemals eine gesunde Beziehung zu seinem Vater? Oder überhaupt einen Vater, der wirklich da war?
Gemeinsame Verantwortung
Wenn Männer kaum an der Erziehung beteiligt waren, wer hat dann die Männer von heute geprägt?
Oft waren es die Frauen. Nicht aus Schuld, sondern aus Struktur. Darum liegt die Verantwortung heute bei uns allen: Männer wie Frauen. Wir müssen aufhören, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Frauen dürfen wieder Weiblichkeit leben, nicht nur Verantwortung. Männer dürfen wieder Verantwortung übernehmen, nicht nur Schuld. Erst dann entsteht Heilung. Erst dann entsteht Familie.
Frieden beginnt im Inneren
Die Welt braucht keine weichgespülten Männer. Sie braucht friedvolle Krieger. Männer, die ihre Kämpfe kennen und austragen, innerlich. Denn Frieden entsteht erst, wenn du deine eigenen Dämonen besiegst. Wenn du deine Schatten anschaust und sie integrierst. Wenn du dich selbst wieder spürst.
Ich glaube: Jeder Mann trägt einen Krieger in sich. Nicht den, der zerstört, sondern den, der schützt. Den, der Klarheit bringt, wo Chaos herrscht. Den, der Verantwortung übernimmt, für sich, seine Kinder, seine Familie.
Mein Fazit
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen:
Männlichkeit ist kein Titel, kein Image, kein Hashtag.
Sie ist eine tägliche Entscheidung.
Zu fühlen, statt zu fliehen.
Zu handeln, statt zu jammern.
Zu stehen, statt zu ducken.
Ich wünsche mir, dass wir Männer wieder lernen, präsent zu sein, mit Herz, Haltung und Rückgrat. Für unsere Söhne. Für unsere Töchter. Für uns selbst.
Denn erst, wenn wir uns selbst begegnen, kann die Welt erfahren, was echte Männlichkeit wirklich ist.
Witalij – Der friedvolle Krieger
Familienvater & Coach für Väter
Über Witalij Deifel

Witalij ist zweifacher Vater und kennt den täglichen Spagat zwischen Verantwortung, Belastung und dem Wunsch, ein guter Mann, Papa und Vorbild zu sein. Nach eigenen Erfahrungen mit Burnout und extremen Herausforderungen weiß er, wie wichtig es ist, sich weiterzuentwickeln, Hilfe anzunehmen, generationsübergreifende Themen aufzulösen und echte Präsenz für die Familie zu schaffen. Aus dieser Erfahrung heraus begleitet er Väter dabei, Klarheit im Chaos ihrer Gefühle und Gedanken zu finden und gestärkt zu dem Vorbild zu werden, das sie sich als Kinder selbst gewünscht hätten – um diese Klarheit auch an ihre eigenen Kinder weiterzugeben.
Mehr Infos: https://witalijdeifel.de/











