Es ist erst wenige Monate her, dass Jakob als Austauschschüler in Warschau war. Herzlich wurde er dort aufgenommen und hat in der Folge unterhaltsame und spannende Einblicke in privates und öffentliches Leben bekommen. Und weil Austausch eben heißt, dass uns im Gegenzug jene Schülerin besuchen kommt, die Jakob vor Monaten kennenlernen durfte, hat sich genau das im September ereignet. Zofia aus Warschau war unser Gast für knapp eine Woche, und wir alle waren sehr gespannt. Nach etwa 17 Stunden Busfahrt erreichte sie mit 40 anderen Schülern den Chiemgau. Nach einer weiteren Viertelstunde dann stand sie vor unserer Tür, ziemlich erschöpft, und bestimmt nicht weniger gespannt als wir. Ein wenig das distanzierte Flair eines Mauerblümchens versprühend, bezog sie noch in den ersten fünf Minuten ihr Gästezimmer. Aber klar, aller Anfang ist immer schwer, Schwarz, Gelb und Grün stecken ja derzeit noch in ähnlichen Schwierigkeiten. Dabei war Schwarz ja ganz besonders schüchtern, hat es sich doch glatt nur gut 30 Prozent der Wähler anzusprechen getraut…
Zofias Lächeln war nicht omnipräsent, aber es war da, wenn es ihrer Gefühlslage entsprach. Wie es sich für einen Teenager von knapp 15 Jahren gehört, müssen die gezeigten Gefühle nicht unbedingt und jedes Mal den empfundenen entsprechen. Gerne gelächelt hat sie beim Abendessen, am Morgen einige Zeit nach dem Aufstehen, und weil sie Valentin ein Bauernhof-Spiel mitgebracht hat. Die Anleitung dafür war nämlich auf Polnisch, also musste Zofia ihm das Spiel mit ihren eigenen Worten erklären, auf Deutsch. Das gelang ihr ziemlich gut, was Grund genug war, Valentin wiederholt zuzulächeln. Also: geht doch. Aber eben nicht immer. Manchmal mehr so mürrisch und so gar nicht interessiert an einem längeren Gespräch auf Deutsch oder Englisch – beim Deutsch-Polnischen Abschlussabend in der Festhalle des Gymnasiums gab mir ihre Deutschlehrerin zu verstehen, dass Zofia ein sehr schüchternes Mädchen sei. Das erklärte natürlich einiges. Ihre alltägliche Zurückhaltung hat sie aber zumindest nicht daran gehindert, an Ausflügen teilzunehmen, die wir ihr angeboten haben. So auf eine hochgelegene Alm oder in ein Schwimmbad. Mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden sowie den Austauschülerinnen und -schülern aus Jakobs Klasse unternahm sie zudem Fahrten etwa nach Salzburg oder auf die Herreninsel im Chiemsee. Darauf steht ein schönes Schloss, in dem dereinst der sogenannte Märchenkönig, König Ludwig II. zwar nicht wirklich residierte, aber doch gerne mal nach dem Rechten sah.
Zofia hätte ich mir darin gut als kleine, zierliche Prinzessin vorstellen können, die ein strenges Regiment führt. Und dabei ihr Reich und ihre Untertanen mit Argusaugen im Blick behält – als unermüdliche Chronistin jeglichen Geschehens. Was deshalb naheliegt, weil sie bereits als unser einfacher Gast ohne adlige Allüren fleißig, sehr fleißig am handschriftlichen Schreiben war. Demnach offenbar alles aufgeschrieben hat, was sie so den lieben langen Tag erlebt hat, vielleicht sogar mächtig aufgeregt. Darunter fällt wahrscheinlich so mancher Versuch, sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Andererseits geht man so nicht mit Prinzessinnen um, die ein standesgemäßes Recht haben auf eine exklusive Privatsphäre. Die behütet und geschützt bleiben muss, komme, was da will. Allen voran Gesprächsversuche über Dreiwortsätze hinaus. Ganz am Schluss vermutlich eine Einladung zu einer kleinen Fahrradtour. Die war natürlich ganz schlecht vorbereitet, schon weil zwischen den einfachen Rädern keine goldene Kutsche zu erkennen war…
Beim Abschlussabend ging es dann aber noch mal richtig ab. Mit vielen anderen Jugendlichen tanzte Zofia zu modernem polnischen Liedgut, und die Freude darüber war ihr deutlich anzusehen. Dass wir darauf nicht selbst gekommen sind: Möglichst laute Musik aus ihrer Heimat, Karaoke vor einer großen weißen Leinwand, und ein etwa 10 Meter langes, kaltes Buffett, all das bei uns zuhause, und schon wäre das Eis getaut. Wenig Aufwand also für viel Völkerfreundschaft. In der Schule wurde die angemessen gefeiert, während die bei uns zuhause in leisen Tönen, auf eben nicht ausgetretenen Pfaden daherkam. Gleichermaßen erfolgreich, gaben wir Zofia noch ein paar Geschenke für ihre Eltern mit auf den weiten Nachhauseweg. Nein, keine Kronjuwelen und anderes Geschmeide, aber alle unter Einbeziehung unserer besten Wünsche für eine friedliche Zukunft.
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