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Zwischen Alltag und Ungleichheit: Wie Eltern Gerechtigkeit in Deutschland erleben

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Was Eltern in Deutschland als ungerecht empfinden – und warum Väter in Sachen Gerechtigkeit anders urteilen als Mütter

Vatersein heißt: Verantwortung, Organisation, Arbeit, Liebe – und manchmal Frust. Denn wer Kinder großzieht, sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen. Und merkt: Gerechtigkeit ist keine Selbstverständlichkeit. Eine aktuelle Sozialstudie der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen®-Kinderförderung zeigt deutlich: Eltern nehmen das Leben als ungerechter wahr als Jugendliche und auch zwischen Müttern und Vätern klafft eine große Lücke in der Wahrnehmung.

Ungerechtigkeit beginnt im Alltag – besonders für Mütter

Während in klassischen Politbarometern häufig noch Ost-West-Unterschiede diskutiert werden, rückt die neue Studie andere Differenzlinien ins Zentrum: Geschlecht, Wohnort und Lebensform sind entscheidend dafür, wie gerecht Eltern Deutschland erleben. Besonders auffällig ist dabei: Mütter – vor allem alleinerziehende – empfinden viele Lebensbereiche als strukturell ungerecht. Sie sehen sich und ihre Kinder häufiger im Nachteil als Väter.

Ein Blick auf die Zahlen belegt das:

  • 61 Prozent der Mütter sagen, man werde in Deutschland für harte Arbeit nicht ausreichend entlohnt.
  • 82 Prozent finden, dass Rentnerinnen und Rentner, die viel gearbeitet haben, im Alter nicht gut abgesichert sind.
  • 74 Prozent sehen deutliche Ungleichheit in der Chancenverteilung für Kinder – besonders zwischen unterschiedlichen Einkommensschichten.

Im Vergleich dazu äußern sich Väter deutlich zurückhaltender. So empfinden nur unter 50 Prozent der Männer die Lohnsituation als ungerecht, knapp 70 Prozent sehen Defizite in der Altersabsicherung. Und bei der Chancengleichheit für Kinder stimmen nur 63 Prozent der befragten Väter zu.

„Wir arbeiten doppelt – und bekommen die Hälfte“

Diese Unterschiede haben Gründe und sie sind nicht nur statistisch, sondern alltäglich erfahrbar. Frauen sind häufiger von Teilzeit, Erwerbsunterbrechungen und schlechter Bezahlung betroffen. Gleichzeitig leisten sie überdurchschnittlich viel unbezahlte Care-Arbeit – Kinderbetreuung, Haushalt, Pflege. Viele fühlen sich – trotz Anstrengung – finanziell und gesellschaftlich nicht gleichberechtigt.

Dazu kommt ein strukturelles Problem, das sich besonders auf dem Arbeitsmarkt zeigt. Wer Kinder hat – und vor allem wer sie allein betreut – gilt als „Risikofaktor“ bei Bewerbungen. Eine fatale Entwicklung, wie Bernd Siggelkow vom Kinderhilfswerk „Die Arche“ bestätigt:

„Arbeitgeber stellen ungern Alleinerziehende ein, da sie, wenn die Kinder krank werden, häufiger fehlen würden.“

Diese Realität trifft vor allem Mütter. Denn auch wenn das Bild des modernen, aktiven Vaters heute weiter verbreitet ist: In der Praxis stemmen nach wie vor viele Frauen den Löwenanteil des Familienalltags, oft sogar allein.

Alleinerziehende besonders betroffen – und oft übersehen

Die Studie zur Gerechtigkeit legt offen: Wer als Elternteil allein für ein oder mehrere Kinder sorgt, empfindet das Leben in Deutschland als besonders ungerecht. 84 Prozent der Alleinerziehenden finden, dass Kinder in Deutschland nicht die gleichen Chancen haben – unabhängig vom Einkommen. Zum Vergleich: Unter Eltern in Partnerschaft sagen das „nur“ 68 Prozent.

Auch bei anderen Themen zeigt sich ein klares Ungleichgewicht:

  • 90 Prozent der Alleinerziehenden sehen eine mangelhafte Absicherung für Rentner*innen (Paare: 76 Prozent)
  • 93 Prozent beklagen ungleiche Lebensbedingungen in Deutschland (Paare: 76 Prozent)
  • 72 Prozent halten die Bildungsförderung für Kinder für unzureichend (Paare: 54 Prozent)

Die Ursachen sind vielfältig und häufig miteinander verwoben. Finanzielle Unsicherheit, fehlende Kinderbetreuung, strukturelle Benachteiligung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Was besonders bitter ist: Alleinerziehende tragen die Verantwortung für ihre Kinder allein, doch die gesellschaftliche Unterstützung ist oft spärlich. Und in der politischen Diskussion werden sie schnell übersehen.

Geschlechterrollen neu denken – auch als Vater

Gerade für engagierte Väter sind diese Erkenntnisse ein wichtiger Weckruf. Denn: Gerechtigkeit in der Familie beginnt nicht erst bei Gesetzesreformen oder Sozialleistungen, sie beginnt im Alltag. Wer als Vater früh Verantwortung übernimmt, Erwerbs- und Care-Arbeit gleichberechtigt aufteilt und sich für Gleichstellung stark macht, verändert nicht nur das Leben seiner Kinder, sondern auch die Gesellschaft.

Dass viele Väter dabei noch Potenzial nach oben haben, zeigt die Studie ebenfalls. Besonders auffällig: Nur 27 Prozent der Väter sehen eine fehlende Gleichbehandlung von Männern und Frauen, bei den Müttern sind es über 60 Prozent. Und unter den alleinerziehenden Vätern sogar nur 15 Prozent.

Das kann zweierlei bedeuten: Entweder erleben viele Väter weniger Diskriminierung oder sie sind sich bestehender Ungleichheiten schlicht nicht bewusst. In beiden Fällen gilt: Hinschauen, hinhören, mitdenken.

Stadt, Land, Ungleichheit: Regionale Unterschiede

Nicht nur Geschlecht und Familienform spielen eine Rolle, auch der Wohnort beeinflusst das Gerechtigkeitsempfinden stark. Die Studie zeigt: Eltern auf dem Land empfinden Deutschland deutlich ungerechter als Eltern in Städten.

Am deutlichsten zeigen sich die Unterschiede in diesen Punkten:

  • Chancengleichheit für Kinder: 78 Prozent der Landbevölkerung sehen hier Defizite, in der Stadt sind es 66 Prozent
  • Belohnung harter Arbeit: 65 Prozent (Land) vs. 52 Prozent (Stadt)
  • Altersabsicherung: 86 Prozent (Land) vs. 73 Prozent (Stadt)
  • Hilfe für Arme: 57 Prozent (Land) vs. 43 Prozent (Stadt)

Diese Zahlen zeigen: Wer außerhalb urbaner Zentren lebt, sieht sich häufig strukturell benachteiligt. Fehlende Infrastruktur, geringere Jobchancen, längere Wege zu Bildungseinrichtungen oder medizinischer Versorgung tragen zur Wahrnehmung bei, „abgehängt“ zu sein. Die viel zitierte „Landflucht“ ist also nicht nur ein demografisches, sondern auch ein soziales Phänomen.

Und der Osten?

Überraschenderweise zeigt die Studie: Der Ost-West-Konflikt ist in der Wahrnehmung von Eltern kaum noch präsent. Zwar empfinden ostdeutsche Eltern das Leben minimal ungerechter, doch der Unterschied ist statistisch kaum relevant. Entscheidend ist heute vielmehr der soziale Status: Eltern mit niedrigem Einkommen bewerten die Gerechtigkeitssituation überall ähnlich negativ, unabhängig vom Bundesland.

Das ist ein wichtiges Signal: Der gesellschaftliche Zusammenhalt lässt sich nicht mehr entlang alter Landesgrenzen beschreiben. Entscheidend sind soziale Bedingungen, nicht geografische.

Gerechtigkeit braucht starke Eltern – und Kinder mit Stimme

Die Bepanthen®-Kinderförderung macht mit dieser Studie deutlich: Wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, müssen wir Eltern hören. Und zwar besonders jene, die kaum gehört werden. Und wir müssen Kinder einbeziehen, nicht nur als Betroffene, sondern als Mitgestaltende.

„Wir reden und entscheiden nur über sie, wir entscheiden selten mit ihnen. Das muss sich sehr schnell ändern“
Bernd Siggelkow (Die Arche)

Das Fazit: Gerechtigkeit ist nicht neutral. Sie wird erlebt, verhandelt, hinterfragt – aus unterschiedlichen Perspektiven. Mütter und Väter sehen die Welt unterschiedlich, weil sie unterschiedlich behandelt werden. Doch beide Perspektiven sind wichtig. Und: Veränderung beginnt, wenn diese Unterschiede sichtbar gemacht und ernst genommen werden.

Für Väter bedeutet das auch: sich selbst zu reflektieren, zuzuhören, wo andere Erfahrungen machen und sich für mehr Gleichheit einzusetzen. In der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft. Denn echte Gerechtigkeit funktioniert nur, wenn alle mitgemeint sind und auch selbst aktiv mitwirken.

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