Für Kinder, die ja die Welt erst entdecken, sind sie mit ihrer Lebenserfahrung, mit ihrer Liebe und Fürsorge wichtige Bezugspersonen. Sie geben ihren Enkeln Geborgenheit und schenken ihnen Aufmerksamkeit und Selbstvertrauen. Und sie haben meistens mehr Geduld als ihre Eltern. Da ist es kein Wunder, wenn bei vielen Kindheitserinnerungen Oma und Opa im Mittelpunkt stehen. Nicht umsonst heißt eine der Geschichten in diesem Buch: „Er war mir von allen der Liebste – Großvater“.
„Der alte Seebär“ war Gustav Jantzens Opa Heini, seit 1900 der Seefahrt verschrieben, bis er sich verliebte und an Land blieb. Gern hörte der Junge Großvaters Reiseerzählungen zu und bewunderte dessen Zivilcourage.
Die kleine Elisabeth Balzer hat bereits früh bemerkt, dass die Menschen sehr unterschiedlich sind. In „Meine Großeltern aus Holstein und Sachsen“ beschreibt sie deren vom lokalen Umfeld, konfessioneller Prägung und sozialer Stellung geformte Charaktere und zeichnet damit zugleich ein kleines Sittenbild der späten Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Bis ins 19. Jahrhundert zurück reicht die Erzählung von Marlene Theil über ihren Großvater, den „Grünen Husar“. Der hatte im Krieg 1870/71 gedient und aus jener Zeit einige Langgewehre aufbewahrt. Nach dem Einmarsch der Roten Armee 1945 werden sie zur Gefahr.
Hans Döpping stellt uns seine couragierte Großmutter Konstantine vor, die 1945 im thüringischen Möbisburg schlagfertig und erfolgreich um ihren von russischen Soldaten requirierten Regulator kämpfte.
Detailreiche Schilderungen der Lebensgewohnheiten von einst geben den hier geschilderten Erinnerungen das Kolorit. So auch Silke Mayers Geschichte „Kolbász und Cevapcici“, einem liebevollen Porträt der aus Ungarn stammenden und nun in Deutschland lebenden Großmutter.
Natürlich fehlen auch in dieser Sammlung nicht die kuriosen Begebenheiten. So landen „die Dritten“ von Ilse Oertels Opa im Schweinefutter. Wie dennoch alles ein gutes Ende findet, ist hier schmunzelnd nachzulesen. Nach dem ersten Band „Damals bei Oma und Opa“ gibt es auch im vorliegenden Folgeband wieder Heiteres und Ernstes, Nachdenkliches und ein bisschen Verrücktes zu lesen. 28 Verfasserinnen und Verfasser sorgen für kurzweilige Lesestunden, die nebenbei auch Alltags- und Zeitgeschichte des vergangenen Jahrhunderts vermitteln.
Eine Geschichte wollen wir Euch ans Herz legen, „An Großvaters Seite“ von Klaus Pawka:
Plötzlich ist es, als hielte mir das Gedächtnis das Ende eines Fadens hin, als brauchte ich diesem Faden nur zu folgen, nur die heimatliche Dorfstraße im Geist hinaufzulaufen, um am Ende doch noch das begehrte Fleckchen vor Augen zu haben. Und ich greife nach dem Faden. Er führt mich in die Wohnküche im Haus der Großmutter. Und da sehe ich die flinke Frau auch schon zum Küchenschrank huschen, nach einem Stückchen Würfelzucker aus der kleinen Porzellandose langen und mir in den aufgesperrten Mund stecken. Ich fühle die süße Kostbarkeit noch heute auf der Zunge zergehen.

Blick auf die Dorfstraße in Machenau mit dem Haus unseres Nachbarn, das unserem ähnelt.
Verborgene Kammern in meinem Gedächtnis haben sich geöffnet; angenehme Erinnerungen strömen heraus: Ich sitze auf dem Sofa, einen der spannenden Detektivromane vor Augen, den die Oma, da ich des Lesens kundig geworden bin, für mich auf den Küchenschrank gelegt hat. Die sind für mich zur neuen Umwelt geworden. Oma schimpft oft, aber davor fürchte ich mich nicht. Wenn ich sie groß ansehe, fängt sie gleich wieder an zu lachen. Sie kommandiert.
Ich muß mich von der Lektüre losreißen, in die „gute Stube“, in das Wohnzimmer, wechseln. Und mir geht allmählich auf, heute ist ein Festtag für mich! Denn auf dem Tisch ist die eiserne Spielzeugeisenbahn aufgebaut, der Opa schiebt den Zug schon über die Schienen. Es riecht angenehm nach Zigarrenrauch im Zimmer, Opa hat nur eine Hand frei für sein Hantieren, die andere hält die Zigarre. Er winkt mich an den Tisch heran, und wir versinken im Spiel. Zu guter Letzt steckt er der Lokomotive seinen qualmenden Zigarrenstummel in den Schornstein.
An einem solchen Tag bleibt mir das Glück treu. Großvater, der als Oberladeschaffner im Saganer Bahnhof arbeitet, im, wie Großmutter vor Leuten hervorzuheben pflegt, „gehobenen Dienst“, als Beamter also, Opa hat heute seinen freien Tag. Er steckt sich eine neue dicke Zigarre unter die Nase und macht Anstalten, zu einem seiner gewohnten Spaziergänge aufzubrechen, das heißt, für zwei Stunden zum Lehrer aufzusteigen und mir die Welt zu erklären, wie er sie sieht.
Schienenstränge umschließen unseren Ort von allen Seiten, sie führen nach Breslau, Glogau und Liegnitz. Der Großvater und ich zotteln bis zur Bahnschranke. Opa ist für mich eine hochgestellte Persönlichkeit. Nicht, weil es die Oma behauptet, eher schon, weil Opas großer, runder Kopf in einer Höhe schwebt, wohin mein Blick nur mit Mühe reicht, vor allem aber, weil er auf dem Saganer Bahnhof offenbar eine bedeutende Stellung innehat, weshalb in seinem Berufsausweis auch der unverständliche und daher um so vornehmere Ausdruck „Reichsbahnoberladeschaffner“ und in Klammern das Wort „Beamter“ steht.
Schon die Dienstmütze, unter der er heute seinen Dreimillimeterstoppelschnitt verbirgt, macht ihn zur Respektsperson. Ein solcher Mensch weiß alles. Ich frage, was mir gerade in den Kopf kommt.
Ich frage Großvater Löcher in den Bauch. „Opa, kann ich mal deine Mütze haben?“ Der Großvater nimmt die Mütze ab und hervor kommt sein Stoppelschnitt. „Opa, mit Mütze siehst du aber besser aus!“ Der Großvater fühlt sich bemüßigt, mir seine kurzgeschorenen Haare als wirksame Methode gegen den Haarausfall anzupreisen und droht mir allerhand Krankheiten an. „Deine sind viel zu lang, du wirst noch mal anzufangen zu schielen!“ „Schielen, Opa, meinst Du wirklich schielen?“ „Deine Mähne fällt dir doch immer wieder auf das linke Auge, dort wird es dann finster! Alle paar Sekunden schmeißt du deshalb die Haare nach hinten. Du wirst noch mal ’ne Schüttellähmung kriegen!“ „Schüttel… was?“
Ich sehe nach oben und versuche in seinem Gesicht zu lesen. Er lächelt und ich beruhige mich. Dann schiebt er mir seine suppentellergroße Mütze auf den Scheitel. Mein Kopf verschwindet darin. Aus seiner Höhe sieht er nur noch die Mütze. „He, Junge, wo bist du denn?“ Er zieht an seiner dicken Zigarre, hebt den Kopf und bläst vergnügt den Rauch in die Luft. „Na gib mal wieder her! Ich fang schon an zu frieren.“
Die Geschichte mit der Mütze hat sich somit erledigt. Aber sie zieht eine Frage nach sich: „Opa, der Papa hat auch mal ‘ne Mütze gehabt, da war ‘ne Schnur dran. Was is’n das für eene? Die hing immer vorne am Haken, jetzt is’ se weg, jetzt hängt da so ‘piekfeine braune Uniform. Die muß immer gebügelt sein!“ „Aha, aha! Die Thälmann-Mütze hat er im Schrank versteckt und die Naziuniform zeigt er vor!“ Großvaters Gesichtsausdruck verändert sich, er wird abweisend. Aber Großvater will wohl nichts gegen den Vater sagen, er schweigt lieber ein Weilchen. Bedeutende Menschen, wie Großvater, schweigen manchmal. Ich verstumme auch.

Wir sind inzwischen an der Breslauer Bahnschranke angelangt. Der grellweiß-grellrot gestreifte metallene Schlagbaum senkt sich gerade, das Läutewerk schickt seine tönende Warnung an uns beide. Großvater stopft mir seine Kenntnisse über die Mechanik der Anlage in den Kopf und die Ermahnung dazu, niemals unter einer geschlossenen Schranke hindurchzukriechen, alles im reinsten Hochdeutsch.
Und schon fliegt der angekündigte Zug an uns vorüber. In der Sicherheit großväterlicher Obhut verliere ich ein Stück der Angst vor dem Gedröhn. Künftig werde ich die neue Erfahrung schützend vor die Angst setzen, daß mir der heranjagende Zug nichts anhaben kann, daß er mir, wie diesmal, nur kühlende Zugluft um die Ohren weht, ein Labsal an heißen Sommertagen.
Großvaters gute Laune kehrt zurück. Er steckt sich eine weitere Zigarre an, spaziert mit mir paffend über die Gleise, hin zu neuen Offenbarungen. Zu Hartmanns Loch zieht es ihn, weil er hofft, mit diesem seltsamen Teich mein Gemüt zu beeindrucken. Es sei viel tiefer, als es sich für einen Teich gehöre, behauptet er, noch immer in gepflegter Aussprache, man könne den Kirchturm der Saganer Gnadenkirche darin unterbringen.
Dann aber bekommt er einen Schreck, denn er sieht den kleinen neugierigen Enkelsohn allzu nahe am gefährlichen Wasserloch stehen und er fällt in seinen gewöhnlichen niederschlesischen Dialekt: „Oh, oh, geh ja nie so nahe ran, daß de dir nie unterstehst! Dein Vater wär bale mal drinne ersuffen und der kann gutt schwimm! Nee, nee, mit Hartmanns Loch is nie zu spaßen, hier isses nie geheuer!“
„Hexen, Opa , vielleicht sind Hexen drinne oder Zauberer?“ Es gruselt mich, aber ich will mehr wissen. Doch Großvater ist Atheist und glaubt nicht an Gott und schon gar nicht an Hexen. Und die stille Wasseroberfläche des Teiches schweigt. Als sich Großvater die dritte Zigarre gönnt, stehen wir am Bober, dem großen Fluß meiner Kindheit. „Hier kannste reingehn, vastehste, aber bloß bis zu die Kniee! Das Wasser is reißend!“ – Großvater muß seinen Enkel behüten. – „Es zieht dir de Beene weg und schunn biste an die Drehlöcher, dort drehts dich drei Meter in die Tiefe, da kummste nimmer raus! Ja ja, da hat schunn mancher drinne gelegen und später ham se ihn ausm Wasser gefischt, am Wehr!“ „Tot, Großvater, tot?“ „Was denkst’n du!“
Überall Gefahr! Aber Großvater ist bei mir. Und außerdem: Habe ich nicht an der Bahnschranke dem heranrasenden Zug widerstanden? An Großvaters Seite ist selbst das Gruseln angenehm. Ich schaue über den Fluß. Drüben, in Deutsch Machen, muß Vaters Elternhaus liegen. Aber es führt keine Brücke hinüber. Der Großvater bemerkt meinen Blick. Ich sehe den Alten sinnieren, bis er unter dem Mützenschild schließlich hervorbricht, leise, undeutlich, resignierend: „Ja, dein Vater, der ist nie da, der is’ weit weg. Bis nach Rußland kannste nie seh’n, der muß dort uff die Russen schießen, dein Vater, den hab’n ‘se in der Mangel.“
Geborgen bei Oma und Opa
Zeitzeugen erinnern sich an ihre Großeltern. Band 2.
192 Seiten mit Abbildungen, Ortsregister,
Zeitgut Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86614-224-4, Euro 9,95
Bildquelle Dorfstrasse: Zeitgut Verlag/Privatbesitz des Verfassers